Trauer um Keyvan Dahesh

Der blinde Journalist Keyvan Dahesch ist einige Tage nach seinem 76. Geburtstag in den Morgenstunden des 1. Januar 2018 verstorben.

Nachruf von Dr. Christian Mürner

„Träum’ nicht, höre!“, sagte seine Frau Anni zu ihrem Mann Keyvan Dahesch, wenn er die Wohnung verließ und auf die Straße ging. Damit mahnte sie ihn, da er oft mehrere Dinge gleichzeitig erledigen wollte, zur Aufmerksamkeit. So wie wir sagen: „Sei vorsichtig!“ Doch das passte hier nicht, denn Keyvan Dahesch war seit Geburt blind. Er wurde 1941 in Teheran geboren.

Der blinde Jugendliche Keyvan Dahesch kam Ende der 1950er aus dem Iran nach Deutschland, weil seine Eltern glaubten, dass deutsche Augenärzte ihn heilen könnten, was aber nicht möglich war. Während der Zeit der Untersuchung in Deutschland lernte Dahesch erstmals eigentliche blindenspezifische Medien und Umgangsweisen kennen. Seine „Heilung“, wenn man so sagen kann, bestand dann in seiner selbst erarbeiteten Karriere vom Masseur über den verbeamteten Bürgerbeauftragten in Frankfurt a.M. bis zum freien Journalisten, der für große Zeitungen wie „Die Zeit“ schrieb und frühmorgens Live-Interviews zu aktuellen behindertenpolitischen Themen im Deutschlandfunk gab.  

Einer seiner zahlreichen Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ vom 25. März 2000 trägt den Titel „Keine Uhr für den kleinen Jungen“. Dahesch erzählte, dass er als Junge wie alle anderen eine Uhr haben wollte, seine Eltern hätten jedoch gesagt, das geht nicht. Erst später erhielt er eine Uhr mit aufklappbarem Abdeckglas, bei der Dahesch die Zeiger und die Zeit mit den Fingern ertasten konnte.

1960 zog Keyvan Dahesch nach Frankfurt a. M., hier blieb er – mit einigen beruflich bedingten Unterbrüchen – rund fünfzig Jahre lang. Er machte eine Ausbildung zum staatlich geprüften Masseur und medizinischen Bademeister, darauf war er in verschiedenen Kurkliniken tätig. 1971 bekam Keyvan Dahesch ein Stipendium des Gewerkschaftsbunds für ein komprimiertes Studium der Soziologie, Volkswirtschaft und des Arbeitsrechts an der Europäischen Akademie der Arbeit in der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität. Während seines Studiums nahm er abends freiwillig an Kursen der Arbeitsgemeinschaft Medien teil und entdeckte dabei sein „Talent für diesen Bereich“, wie er sagte. Dann wurde Keyvan Dahesch 1972 als Sachbearbeiter in der Abteilung Organisation, Statistik und Geschäftsordnung im Landesversorgungsamt Hessen eingestellt und war unter anderem auch für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

Die Quintessenz seiner journalistischen Beiträge lag in der Bündigkeit. „Ich höre, fühle, rieche, schmecke. Also bin ich.“ So begann Keyvan Dahesch 2002 einen Artikel mit der Überschrift „Leben mit dem Handicap“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Diese klare Position, die seine vorhandenen Sinne betonte, erwähnte das vermeintliche Defizit nicht.

„Vom Sahnetortenkind zum engagierten Journalisten“ – ist ein pointiertes, aufrichtiges Fazit von Daheschs Lebenslauf sowie seines langjährigen Engagement für Menschen mit Behinderung – und es ist die Überschrift aus der „Frankfurter Rundschau“ 2004 zu einer Veranstaltung des Frankfurter Erzählcafés, das Keyvan Dahesch unter dem Titel „Blind und trotzdem ein Ziel vor Augen“ zum Gespräch eingeladen hatte.

1966 heiratete Keyvan Dahesch die Bankangestellte Anni Westerweller, zusammen gründeten sie 2006 die Anni und Keyvan Dahesch-Stiftung mit ihrem Privatvermögen. Stiftungszweck ist die Unterstützung von körperlich, geistig oder seelisch behinderten Mitbürgern durch Zuwendungen, die im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe gewährt werden und die die allgemeinen Sozialhilfeträger nicht übernehmen.

1970 wurde Keyvan Dahesch deutscher Staatsbürger. Er war parteipolitisch aktiv in der SPD. Einen Artikel in „evanglisch.de“ vom 8. März 2012 beginnt Keyvan Dahesch mit folgendem Zitat: „Für den dritten Platz auf der Liste zur Wahl der Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen schlagen wir unseren seit der Geburt linken Genossen Keyvan Dahesch vor.“ Das ist ein prägnanter und erheiternder Anfang, nach dem Motto: „Wer in der SPD Frankfurt a. M. Karriere machen will, muss wohl von Geburt an auf der linken Seite groß werden.“ Aber die Ankündigung war eine sogenannte Fehlleistung. Anstelle des „linken Genossen“ sollte „blinder Genosse“ stehen. So weit so gut. Warum aber die Blindheit hervorgehoben werden sollte, ist eine andere Frage, die sicher im Zusammenhang des Wohlfahrtsverbandes stand.

Zu den Hobbys von Keyvan Dahesch gehörten Walking und Tandemfahren. Regelmäßig, jeden Montag, ging er zum Turnen „Fit in die Woche“, walkte die Nidda entlang, begleitet von den Frauen des Turn- und Sportvereins Nieder-Eschbach 1894. 2004 berichtete die „Frankfurter Rundschau“ über den „Mann an der Leine“. Er trug Jogginghose, Windjacke und eine Baseballkappe mit „weit nach vorn ausladendem Stirnschild“, dieses warne ihn vor Hindernissen, fügte er scherzend hinzu. Die Walking-Trainerin dagegen ermahnte ihn, nicht weiter Witze zu machen, sonst lande er gleich im Graben, obwohl er mit ihr an einem Gymnastikband ging. Sie erzählte auch augenzwinkernd, dass Keyvan Dahesch sich leider auch einzelne der sportlichen Damen zur Begleitung für andere Veranstaltungen ausleihe.

Dieser dynamische, sportliche, freundlich beharrliche und humorvolle Keyvan Dahesch wurde 2013 aus „heiterem Himmel“, wie man so sagt, krank. Seine Frau Anni Dahesch umsorgte ihn bis zu ihrem Tod im Januar 2016, kurz vor ihrem 80. Geburtstag.  Keyvan Dahesch lebte die letzten Jahre im Pflegebereich des als Altersdomizil ausgesuchten Kurstifts. Er konnte nicht mehr gehen und sein beliebtestes Kommunikationsmittel, das Mobiltelefon, konnte er nicht mehr in der Hand halten. Keyvan Dahesch verstarb am 1. Januar 2018 in Bad Homburg.

Literaturhinweis: Christian Mürner: Keyvan Dahesch. Mit Fingerspitzengefühl – Biografie eines Blinden. Neu-Ulm 2013.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Nachruf erschien zuerst bei kobinet-Nachrichten am 2. Januar 2018.

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