Neues Betreuungsrecht = mehr Selbstbestimmung?
Interview mit Jana Offergeld zur Reform des Betreuungsrechts
Gerade wird das Betreuungsrecht reformiert. Am 5. März 2021 hat der Deutsche Bundestag die Gesetzesänderung beschlossen. Nun muss der Deutsche Bundesrat dem Entwurf noch zustimmen.
Mit der Änderung will der Gesetzgeber Menschen, die unter rechtlicher Betreuung stehen, mehr Selbstbestimmung einräumen. Warum es diese Reform brauchte und ob sie gelungen ist, das fragen wir Jana Offergeld, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte. Sie hat am Bochumer Zentrum für Disability Studies zum Thema Selbstbestimmung und rechtliche Betreuung promoviert.
BODYS: In Ihrer Doktorarbeit* haben Sie sich bewusst dafür entschieden, dass die Perspektive von Menschen unter rechtlicher Betreuung im Zentrum steht. Warum war das wichtig?
Offergeld: Weil diese Perspektive bisher noch nicht ausreichend Beachtung gefunden hat. Ausgangspunkt meiner Studie war die Diskussion um die Vereinbarkeit des Betreuungsrechts mit der UN-Behindertenrechtskonvention. In der Vorbereitung meiner Erhebung fiel mir schnell auf, dass es bis dahin kaum wissenschaftliche Arbeiten gegeben hatte, die Menschen mit rechtlicher Betreuung selbst befragt hätten. Inzwischen hat sich das geändert, aber ihre Perspektive nimmt immer noch viel zu wenig Raum in der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit dem Thema ein. Und das, obwohl es in der Diskussion ja vor allem um das Selbstbestimmungsrecht betreuter Personen geht. Daher entschied ich mich früh, diese Perspektive entlang eines partizipativen Forschungsvorhabens zu untersuchen. Gemeinsam mit dem Selbstvertretungsverein Mensch zuerst e.V. führte ich daher neben den Interviews auch eine Schulungsreihe für betreute Menschen durch.
BODYS: Was heißt rechtliche Betreuung und was bedeutet das für betroffene Menschen?
Offergeld: Die rechtliche Betreuung soll Menschen mit Behinderungen helfen, die Unterstützung bei der Regelung ihrer rechtlichen Angelegenheiten benötigen. Die betreuende Person soll die betreute Person vor allem beim Treffen und der Umsetzung eigener Entscheidungen unterstützen – zum Beispiel bei der Einwilligung in eine medizinische Behandlung oder bei der Verwaltung ihrer Finanzen. Der gesetzliche Rahmen sieht aber auch vor, dass die rechtliche Handlungsfähigkeit einer Person in Ausnahmefällen eingeschränkt werden kann. Ihre rechtliche Betreuung kann dann stellvertretend für sie entscheiden, dies muss zuvor durch ein Gericht genehmigt werden. Für die betroffene Person bedeutet das natürlich einen tiefen Einschnitt in ihre persönlichen Freiheitsrechte, z.B. wenn sie auf Grundlage einer entsprechenden gerichtlichen Anordnung eine Zwangsbehandlung erlebt.
BODYS: Warum wurde das Betreuungsrecht auf den Prüfstand gestellt? Wie kam es dazu?
Offergeld: Nicht der einzige, aber sicherlich ein sehr wichtiger Grund war das Ergebnis der Staatenprüfung Deutschlands durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Der Ausschuss hatte 2015 befunden, dass das Betreuungsrecht nicht vereinbar mit den menschenrechtlichen Vorgaben der Behindertenrechtskonvention ist. Ohne die UN-BRK wäre die jetzige Reform vermutlich nicht angestoßen worden. Selbst- und Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderungen, aber auch Vertreter*innen des Betreuungswesens hatten zwar bereits seit Längerem darauf hingewiesen, dass die Schutzmaßnahmen für das Selbstbestimmungsrecht in der Praxis oft nicht greifen. Bezüglich des gesetzlichen Rahmens des Betreuungsrechts sah die Regierung jedoch lange Zeit keinen Reformbedarf.
BODYS: Wie lauteten die Kritikpunkte und was bedeutet „unterstützte Entscheidungsfindung“?
Offergeld: Der Hauptkritikpunkt des Fachausschusses ist, dass stellvertretende Entscheidungen und Zwangsmaßnahmen gegen den Willen der betreuten Person entlang des gesetzlichen Rahmens – wenn auch als Ultima Ratio – erlaubt sind. Im Hinblick auf die Praxis des Betreuungswesens ist darüber hinaus inzwischen empirisch belegt, dass Menschen mit rechtlicher Betreuung auch außerhalb dieser Ultima Ratio-Situationen häufig Fremdbestimmung und Bevormundung erfahren. Das wird auch in meiner Studie sehr deutlich. Menschen, die Hilfe bei der Ausübung ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit benötigen, haben entlang Artikel 12 der UN-BRK ein Recht auf Unterstützung. In seiner ersten Allgemeinen Bemerkung greift der UN-Fachausschuss das Konzept der unterstützten Entscheidungsfindung auf, um einen Orientierungsrahmen für die Gestaltung entsprechender Unterstützungssysteme entlang menschenrechtlicher Vorgaben zu schaffen. Es wird kein bestimmtes System vorgegeben, sondern Kriterien für verschiedene Modelle unterstützter Entscheidungsfindung hervorgehoben: diese müssen auf Freiwilligkeit beruhen, sich unbedingt und ausschließlich am Willen und den Wünschen der betroffenen Person orientieren und zugänglich sein – unabhängig ihres Beeinträchtigungsgrad, ihrer Kommunikationsform oder ihren finanziellen Mittel.
BODYS: Wer war an dem Verfahren der Gesetzesreform beteiligt?
Offergeld: Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz hat ein breites Bündnis an Expert*innen aus Zivilgesellschaft und betreuungsrechtlicher Praxis im Reformprozess zusammengebracht, darunter auch Selbst- und Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderungen. Über einen Zeitraum von fast zwei Jahren wurden verschiedene inhaltliche Schwerpunkte in gesonderten Fachgruppen diskutiert. Personen, die selbst mit einer rechtlichen Betreuung leben, wurden allerdings nur einmalig im Rahmen eines Workshops einbezogen.
BODYS: Wie lassen sich die wichtigsten Neuerungen kurz zusammenfassen? Inwiefern stärkt das reformierte Gesetz die Selbstbestimmung von Menschen unter rechtlicher Betreuung?
Offergeld: Das ist gar nicht so leicht beantworten, da der Reformprozess sehr umfassend ist und ja zum Beispiel auch das Vormundschaftsrecht für minderjährige Personen miteinschließt. Im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht von rechtlich betreuten Personen ist die wohl wichtigste Entwicklung die stärkere Orientierung an ihrem Wunsch und Willen und die Betonung der Betreuer*innenpflicht, sie bei selbstbestimmten Entscheidungen zu unterstützen. In diesem Zusammenhang wurde auch die sogenannte Wohl-Schranke gestrichen. In Situationen, in denen die betreuende Person die Wünsche und Vorstellungen der betreuten Person nicht erfassen oder einholen kann, hat sie sich jetzt ausdrücklich an deren mutmaßlichen Willen zu orientieren, anstatt die Entscheidung an einem objektiv bestimmten Wohl auszurichten. Außerdem sollen die betroffenen Menschen selbst zukünftig stärker in betreuungsrechtliche Verfahren einbezogen werden.
BODYS: Vor dem Hintergrund Ihrer Forschungsergebnisse, wie schätzen Sie die Reform ein? Wurde der Kritik ausreichend begegnet?
Offergeld: Die zentrale Kritik am Betreuungsrecht, die im Rahmen der ersten Staatenprüfung aufgekommen ist, bleibt in der aktuellen Reform ausgeklammert: Die Regelungen zur Einschränkung rechtlicher Handlungsfähigkeit – etwa im Rahmen eines Einwilligungsvorbehalts, einer Zwangsunterbringung oder -behandlung – werden vorerst nicht berührt. Die gesetzlichen Vorgaben wurden zuletzt 2017 geändert und ihre Auswirkungen werden derzeit evaluiert. Hier ist also noch offen, ob und inwiefern auf die grundlegenden Forderungen des UN-Fachausschusses eingegangen wird.
BODYS: Was sagen die Menschen, mit denen Sie gemeinsam geforscht haben, dazu?
Offergeld: In den Interviews, die ich im Rahmen meiner Studie mit Menschen mit Lernschwierigkeiten geführt habe, standen diese Ultima Ratio-Regelungen allerdings nicht so sehr im Fokus. Viel mehr berichteten die Befragten mir von Situationen, in denen sie Fremdbestimmung erlebten, ohne dass sie formell durch einen Gerichtsbeschluss in ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit eingeschränkt wurden. Zum Beispiel im Hinblick auf die Wahl ihres Wohnortes, ihre Freizeitgestaltung oder finanzielle Ausgaben. Die stellvertretenden Entscheidungen gingen dabei nicht nur von der rechtlichen Betreuung aus, sondern auch von den Mitarbeitenden ihrer Wohneinrichtung, Familienangehörigen oder weiteren Personen aus ihrem sozialen Umfeld. Gleichzeitig konnten viele Menschen sehr genau beschreiben, wo ihre eigenen Unterstützungsbedarfe liegen. Diejenigen Interviewpartner*innen, die zufrieden mit ihrer rechtlichen Betreuung waren, hoben vor allem hervor, sich von der betreuenden Person ernstgenommen und ausreichend unterstützt zu fühlen. Entscheidend für die Bewertung ihrer Situation war auch, wie der Bestellprozess und das Gerichtsverfahren erlebt wurden. Hier nahmen sich allerdings nur Wenige ausreichend einbezogen und informiert wahr.
Gerade im Hinblick auf das Innenverhältnis der Betreuung und den Ablauf betreuungsrechtlicher Verfahren hat die Reform m.E. ein großes Potenzial, wichtige Verbesserungen für Menschen mit rechtlicher Betreuung zu schaffen. Wenn die betreuerischen Pflichten der Unterstützung und der Orientierung am Willen und den Wünschen der betreuten Personen ernstgenommen werden und diese in gerichtlichen Verfahren bedeutungsvoll einbezogen werden, hat das einen großen Einfluss auf die Lebenswirklichkeit vieler betreuter Menschen.
BODYS: Sie sprechen von dem „Potenzial“ der Reform. Schwingen da Zweifel an deren Umsetzbarkeit mit?
Offergeld: Auf jeden Fall genügt es nie, nur ein Gesetz umzuschreiben. Damit daraus wirklich eine Reform im Sinne der betreuten Menschen werden kann, ist zwingend notwendig, dass die Änderungen und Zielsetzungen der Reform allen Akteur*innen im Betreuungswesen ausreichend vermittelt werden: den rechtlichen Betreuer*innen, Richter*innen und Rechtspfleger*innen, Behörden- und Vereinsmitarbeiter*innen, nicht zuletzt auch den betreuten Menschen selbst. Denn sie wissen häufig viel zu wenig über ihren rechtlichen Status und die Rechte und Pflichten ihrer Betreuer*innen. Viele Menschen mit rechtlicher Betreuung, mit denen ich in Kontakt gekommen bin, haben bisher kaum Kenntnis von der Reform. Damit die gesetzlichen Änderungen zu tatsächlichen Verbesserungen in der betreuungsrechtlichen Praxis führen, müssen betreute Menschen unbedingt über diese Änderungen und ihre Rechte informiert werden.
BODYS: Vielen Dank, Jana Offergeld! Und viel Erfolg für Ihre Arbeit!
* Die Dissertation wird unter dem Titel „Unterstützung der Selbstbestimmung oder fremdbestimmende Stellvertretung? Rechtliche Betreuung aus der Perspektive von Menschen mit Lernschwierigkeiten“ bei Beltz Juventa erscheinen (vsl. Sommer 2021).
Interview: Franziska Witzmann (BODYS)