Muttersprache ist ein Menschenrecht

Bericht über die Dialogveranstaltung „Selbstbestimmung und CI (Cochlea-Implantat)“

Zu dem Thema „Selbstbestimmung und CI (Cochlea-Implantat) - der Goslaer Fall“ fand am 30.04.2018 eine Dialogveranstaltung an der Evangelischen Hochschule RWL in Bochum statt. Organisiert wurde die Veranstaltung von Prof. Dr. Theresia Degener (Professorin der EvH RWL Bochum, Leitung von BODYS), Prof. Dr. Helene Skladny (Professorin der EvH RWL Bochum, Beirat BODYS), Franziska Witzmann (wissenschaftliche Mitarbeiterin im BODYS) und Gudrun Kellermann (Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Disability Studies). Als Podiumsgäste eingeladen waren die Sozialpädagogin Liane Boy und der Gehörlosenpädagoge Uwe von Stosch von GIB ZEIT e.V., einem Verein zur Förderung der Zweisprachigkeit bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern in NRW. Im Publikum saßen Vertreter*innen des KSL Essen und Studierende der Heilpädagogik, der Sozialen Arbeit sowie der Elementarpädagogik. Begleitet wurde die Veranstaltung von Schriftdolmetscher*innen und Gebärdensprachdolmetscher*innen.

Podiumsdiskussion über Selbstbestimmung und CI; Foto: Amelie Schmidt

Zum ein Einstieg in den Dialog gaben Gudrun Kellermann und Frau Boy jeweils einen kleinen Input.

Geschichtlicher Hintergrund

Gehörlose Menschen wurden über Jahrhunderte hinweg für bildungsunfähig gehalten. Erst in den letzten Jahrzehnten fand mit der erstmaligen Einsetzung des CI in den 80ern und der Anerkennung der Gebärdensprache als deutsche Landessprache im Jahr 2002 ein Wandel statt. Diese Schritte waren wichtige Schritte hin zur Selbstbestimmung von Menschen mit Hörbehinderung oder gehörlosen Menschen.

Anerkennung der Gehörlosenkultur durch die UN-BRK

Unter anderem eine wichtige Stärkung auf dem Weg in die Selbstbestimmung war auch die UN-BRK aus dem Jahre 2006. Sie erkennt die Gehörlosenkultur als eigene Gemeinschaft an und befreit die Menschen aus dem Zwang, sich der hörenden Gesellschaft anschließen zu müssen. Trotzdem befinden sich immer wieder (gerade gehörlose) Eltern im Fokus der Kritik. Teilweise drohen zuständige Ärzte sogar mit Sorgerechtsentzug im Bereich der Gesundheit, wenn die Familie sich gegen das CI für ihr gehörloses Kind entscheidet. So auch in dem Goslaer Fall von 2017.

Aktuell: Goslaer Fall

Frau Boy legte den Teilnehmer*innen den „Goslaer Fall“ dar, der gegenwärtig in der Gebärdensprachgemeinschaft heftig diskutiert wird. Dabei geht es um ein gehörloses Ehepaar aus Goslar, dessen ebenfalls gehörloses Kind gegen den Willen der Eltern mit einem Cochlea-Implantat versorgt werden soll. Ausgelöst wurde die Diskussion durch einen Professor der HNO-Medizin, den die Eltern aufgesucht hatten, um ihr Kind mit Hörgeräten versorgen zu lassen. Da die Eltern seine Empfehlung für ein CI ablehnten, rief er das Jugendamt an, das wiederum eine gerichtliche Anhörung im November 2017 veranlasste, bei der sich die Eltern für ihre Entscheidung gegen ein CI erklären mussten.

Worum geht es im Streit um das Implantat?

Besonders stellte Frau Boy während ihres Inputs  heraus, dass die Diskussion um die CI-Versorgung und die Spracherziehung gehörloser Kinder bis heute nicht abgeflaut ist. Schwerpunkt von Diskussionen ist vor allem die Entscheidung, ob das gehörlose Kind mit dem CI versorgt werden soll oder in der Gebärdensprache erzogen werden soll. Die Möglichkeit, ein Kind mit einem CI versorgen zu lassen und es gleichzeitig sowohl in der Gebärdensprache als auch in der Lautsprache zu erziehen, wird dabei kaum in den Blick genommen. Probleme sind unter anderem, dass es in NRW nur sehr vereinzelt bilinguale Angebote an Schulen gibt, auch die Situationsumstände sind sehr verschieden. Besonders gegenüber Ärzten müssen sich gehörlose Menschen sehr häufig rechtfertigen. Wenn diese sich gegen das CI entschieden haben, reagieren Ärzte zumeist mit Ignoranz. Dabei sind die Operation und Nutzen des CIs umstritten. Zum einen ist eine Versorgung mit einem CI ein invasiver Eingriff und wie jede Operation mit Risiken verbunden. Es ist daher gerechtfertigt, wenn die Eltern sich dagegen entscheiden und es ihrem Kind überlassen, später sich selbst für oder gegen die Operation zu entscheiden. Zum anderen liefert die Versorgung mit einem CI keine Garantie für eine „erfolgreiche“ lautsprachliche Entwicklung. Gemäß Studien wird bei maximal der Hälfte von Kindern, die mit einem CI versorgt wurden, eine lautsprachliche Entwicklung erreicht, die ähnlich der von hörenden Kindern verläuft. Und schließlich beweisen zahlreiche gehörlose Menschen, die kein CI tragen, dass Taubheit und „Erfolg im Leben“ sich nicht ausschließen. So hat sich in der Gehörlosengemeinschaft viel getan, sie geht heute selbstbewusster mit ihren Rechten um und fordert diese ein.

Jedes Kind hat ein Recht auf Muttersprache

Insgesamt war Frau Boy sehr wichtig, dass eine Basissprache in der Erziehung vorhanden ist, in der das Kind vollkommen auskennt. Ob dies nun die Gebärdensprache oder die Lautsprache ist, ist den Eltern überlassen. Jedoch sind die Ärzte in der Verantwortung. Frau Boys zentrale Forderung in dem Goslaer Fall und generell in allen Fällen dieser Art ist, dass die Ärzte sich vor Beratungsgesprächen mehr Wissen über die Gebärdensprache, die bilinguale Erziehung und die Gehörlosengemeinschaft aneignen.

Behinderte Eltern haben ein Recht auf Selbstbestimmung

Theresia Degener untermauert die Situation des Goslaer Falls aus menschenrechtlicher Perspektive mit verschiedenen Paragraphen. Darunter zählt sie BGB § 1666, UNBRK Art. 3, 5, 22, 23 und 30 auf. Besonders stellt sie das Recht auf eine eigene kulturelle Identität heraus. Damit steht die Familie selbstbestimmt in der Entscheidung, ob das CI eingesetzt wird. In diesem Zusammenhang verdeutlicht sie auch, dass die Diskussion um den „Goslaer“ Fall eine Attacke nicht nur gegen gehörlose, sondern gegen allgemein behinderte Eltern darstellt, denen oft Erziehungs- und Entscheidungskompetenzen abgesprochen werden.

Jede Familie ist anders

Das Publikum zeigte sich betroffen und brachte eigene Perspektiven ein. Viele wurden erstmals für die Situation von gehörlosen Eltern sensibilisiert. Spannend war, dass unter den Teilnehmenden der Veranstaltung auch einige gehörlose Frauen mit sehr unterschiedlichen Biographien vertreten waren, mit oder ohne Cochlea-Implantat versorgt, ausschließlich lautsprachlich kommunizierend oder hoch gebärdensprachkompetent. Sie alle zeigten, dass es nicht einen einzigen Lebensentwurf geben kann, sondern individuelle Biographien. Am Ende der Veranstaltung wird resümiert, dass Gleichstellung und Selbstbestimmung für gehörlose Familien vorangetrieben werden muss. Die Individualität der einzelnen Familien muss im Fokus stehen. Wie der Goslaer Fall ausgeht, ist noch nicht entschieden.

Autorin: Amelie Schmidt

Hier können Sie den Input von Gudrun Kellermann als PDF herunterladen: Input Kellermann

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