Guter Gewaltschutz ist wie ein gutes T-Shirt
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Zugang zum Recht für behinderte Frauen und Mädchen
Der Tag gegen Gewalt an Frauen war der Anlass für einen Fachtag, um auf den erschwerten Zugang zum Recht für behinderte Frauen aufmerksam zu machen. Behinderte Frauen und Mädchen erfahren nicht nur viel öfter (sexualisierte) Gewalt als andere Menschen. Sie finden auch weniger Beratungs- und Hilfeangebote und stoßen im (Straf)Rechtssystem auf große Barrieren.
Am 23. November 2023 veranstalteten daher das Bochumer Zentrum für Disability Studies und das NetzwerkBüro Frauen und Mädchen mit Behinderung/chronischer Erkrankung NRW den Fachtag „Zugang zum Recht für behinderte Frauen und Mädchen“ an der Evangelischen Hochschule in Bochum und online. Es nahmen fast einhundert Personen aus vielen verschiedenen Bereichen teil: Frauenbeauftragte aus Werkstätten für behinderte Menschen, aus der Politik, aus dem Ministerium, der Stadt Bochum, der Polizei, der Wissenschaft und der Selbstvertretung.
Das Programm sah Vorträge von Vertreterinnen aus Forschung, Praxis und Selbstvertretung vor sowie eine Podiumsdiskussion und Austausch mit dem Publikum.
Recht haben und Recht bekommen sind zwei verschiedene Paar Schuhe
Diesen Titel gab Prof. Dr. Theresia Degener ihrem Vortrag. Sie beleuchtete die Auswirkungen struktureller Diskriminierung von behinderten Frauen anhand eines Falls einer Frau mit Behinderung, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen Verletzte sexueller Nötigung wurde. Im Rahmen einer strategischen Prozessführung wurde zum benannten Fall im September 2022 eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Prof. Dr. Theresia Degener forderte in ihrem Vortrag einen besseren Rechtsschutz für Frauen und Mädchen mit Behinderungen, eine gute Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland sowie eine fachlich qualifizierte Praxis und Forschung.
Guter Gewaltschutz ist wie ein gutes T-Shirt
Dr. Monika Rosenbaum vom NetzwerkBüro Frauen und Mädchen mit Behinderung/chronischer Erkrankung NRW ging in ihrem Vortrag „Unser Recht auf Gerechtigkeit“ auf eine große Schutzlücke von Frauen mit Behinderungen in der Gesellschaft ein. Sie berichtete von massiven Eingriffen in die Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen mit Behinderungen und dem Schaffen und Nutzen eines Schuldbewusstseins dieser als „gefährliche Waffe“. Sie forderte den Abbau von Barrieren, „denn Barrieren schützen Täter“ und bezeichnet „guten Gewaltschutz als ein gutes T-Shirt“, denn Gewaltschutz benötigt gute, vielfältige, individuelle Beratungs- und Hilfeangebote für die unterschiedlichen Bedarfe und Belange aller Mädchen und Frauen.
Verweigerung von Selbstbestimmung ist auch eine Form von Gewalt
Tanja Gudd, Frauenbeauftragte in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, ging es um die Verweigerung von Selbstbestimmung als Form von Gewalt insbesondere durch die rechtliche Betreuung von erwachsenen Menschen mit Behinderung durch ihre Eltern. Sie berichtet von Beratungsgesprächen mit Frauen in ihrer Werkstatt, in denen Frauen von Verboten zu Sexualität und Partnerschaft durch ihre Eltern betroffen sind. Tanja Gudd betonte in ihrem Vortrag, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und die Verweigerung von Selbstbestimmung psychische und strukturelle Gewalt darstellt.
Wenn ihr Gewalt erlebt habt: Wir stärken euch den Rücken.
Aus ihrer Arbeit in der Beratungsstelle Mädchenhaus Bielefeld e.V. berichtete Jenni Stille und stellte das Angebot der psychosozialen Prozessbegleitung von Mädchen und Frauen in Strafverfahren bei sexualisierter Gewalt vor. Sie sieht ihre Hauptaufgabe darin, Mädchen und Frauen mit und ohne Behinderungen gut durch den Strafprozess zu begleiten, ihre Bedürfnisse herauszuarbeiten und sie bestmöglich auf die Befragungen und Verhandlungen vorzubereiten. Dazu gehört auch ein Besuch des Gerichtssaals, in dem die Verhandlung stattfindet.
Niemanden zurücklassen
Moderiert von Dr. Monika Rosenbaum diskutierten fünf Expertinnen aus unterschiedlichen Disziplinen über die nötigen Veränderungen. Claudia Seipelt-Holtmann (Netzwerk Frauen und Mädchen mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen NRW) forderte, behinderte Frauen in allen ihren Rollen und Identitätsdimensionen ernst zu nehmen. Julia Zinsmeister (Technische Hochschule Köln) lenkte den Blick auf die Eltern von erwachsenen Menschen mit Behinderungen. Sie seien in die Pflicht zu nehmen, die rechtlichen Belange ihrer Kinder in deren Interesse zu vertreten und nicht ihre Selbstbestimmung zu beschränken. Ebenso forderte sie eine bessere Aus- und Weiterbildung von Fachpersonal in der Behindertenarbeit und der Sozialen Arbeit und damit einhergehend eine kritische Reflexion von Machtstrukturen und deren Aufrechterhaltung. Ceyda Keskin (Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe) sprach sich für präventive Ansätze aus, um Mädchen und Frauen mit Behinderung vor Gewalt zu schützen. Neben dem Zugang zum Recht forderte Kathrin Römisch (BODYS), Beratung und Hilfsangebote so zu gestalten, dass sie auch für Menschen, die unterstützte Kommunikation nutzen, zugänglich sind. Renate Janßen (Fachstelle Interkulturelle Mädchenarbeit, LAG Autonome Mädchenhäuser) verwies auf die Fusion der Jugend- und Behindertenhilfe und damit das Recht auf Unterstützung durch das Jugendamt sowie die Bildung eines Netzwerks aus Jugendhilfe und Behindertenhilfe.
Nichts über uns ohne uns!
Auch das Publikum beteiligte sich mit Forderungen an der Diskussion und wies auf dringende Veränderungsbedarfe hin. Sehr deutlich wurde Widerstand gegen die betreuungsrechtliche Praxis formuliert, dass Eltern automatisch die rechtliche Betreuung ihrer erwachsenen behinderten Kinder übertragen wird. Dies führt oft dazu, dass behinderte Menschen in ihrer (sexuellen) Selbstbestimmung beschränkt werden, aber auch, dass Gewalt nicht wahrgenommen und angezeigt wird. Gefordert wurde zudem die Nutzung von Leichter Sprache überall und für alle, die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes sowie die Umsetzung des Teilhabegesetzes – gemäß dem Slogan der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung: „Nichts über uns ohne uns“.
Als Vertreter der Landesinitiative Gewaltschutz, Aufarbeitung und Anerkennung des MAGS NRW hatte Stefan Glahn aufmerksam zugehört und dankte den Anwesenden mit dem Versprechen: „Ich nehme jede Menge gute Impulse von dieser Veranstaltung in meiner Arbeit mit.“ Dem schloss sich Claudia Middendorf, Beauftragte der Landesregierung für Menschen mit Behinderung sowie Patientinnen und Patienten in Nordrhein-Westfalen, an. In ihrem Schlusswort verwies sie zudem auf die neu eingerichtete Monitoring- und Beschwerdestelle nach dem Wohn- und Teilhabegesetz, an die man sich jederzeit wenden könne. Sie dankte allen Beteiligten für die „großartige Veranstaltung“ und die Beleuchtung des Themas aus unterschiedlichen Perspektiven.
Bericht: Bianca Rilinger & Franziska Witzmann
Fotos: Martyna Szykulla & Carla Westenberger