Freak out!

Derzeit findet im Schwulen Museum in Berlin (Lützowstraße 73) noch bis 29. Mai 2023 eine kleine, aber äußerst sehenswerte internationale Ausstellung unter dem Titel "Queering the Crip, Cripping the Queer" statt. Gezeigt werden künstlerische Werke von 24 zeitgenössischen behinderten, vorwiegend queeren Künstler*innen, die sich mit historischen, kulturellen und politischen Verwobenheiten von Behinderung und Queerness befassen. Präsentiert werden Fotografien, Zeichnungen, Gemälde, Videos und einige Skulpturen. Kurze Textbeschreibungen und Audiodateien in deutscher und englischer Sprache führen die Besucher*innen in verschiedene Aspekte der Disability Studies, Disability Arts und Disability Culture ein, bieten spannende geschichtliche Rückblicke und erzählen aus dem Leben der Kunstschaffenden. Zugleich ist die in dieser Konzeption einzigartige Ausstellung sehr barrierearm und sprachsensibel gestaltet (anders als etwa die große Ausstellung „Crip Time“, die in Frankfurt bis 30.01.2022 lief und so manche* Besucher*in eher ratlos als aufgeklärt zurückließ).

gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto an der Wand von zwei männlich gelesenen Personen mit freiem Oberkörper, beide tragen eine Hose. Der eine Mann sitzt im Elektro-Rollstuhl, der zweite liegt halb auf dessen Beinen und Oberkörper. Ausführliche Bildbeschreibung im Audioguide: https://queer-crip.schwulesmuseum.de/guide/audio/007.html

Bild 1: Titelfoto der Ausstellung und zugehöriges Tastmodell: ein Selfie von Robert Andy Coombs und Joey Solomon in einem Zimmer im Studierendenwohnheim

Motto der Ausstellung: „Freak out!“

Verschiedene Themen werden in acht Etappen dargestellt, z.B. die Unterdrückung und die Proteste der Tauben Gemeinschaft („Taub“ analog „Deaf“ in Großschreibweise), Gebärdenpoesie, das Brechen mit binär heteronormativen Konventionen bzgl. Sexualität und Geschlecht, die Sterilisation und Tötung behinderter und queerer Menschen im Nationalsozialismus. Darüber hinaus werden Ikonen der behinderten/queeren Kunst präsentiert, u.a. Audre Lorde (1934-1992) als lesbische Schwarze Feministin, die mit einer Krebsdiagnose konfrontiert wurde, und die Fußmalerin Lorenza Böttner (1959-1994), die im Alter von 8 Jahren beide Arme verlor und sich gegen geschlechtliche Zuschreibungen stellte. In Deutschland lebende Künstler*innen sind Steven Solbrig, Ono Ludwig, Rita Mazza, SchwarzRund und Dirk Sorge, die sich in der Ausstellung in Bild und/oder Wort präsentieren.
„Freak out“ ist das Motto der Ausstellung, das behinderte und queere Menschen dazu auffordert, sich die Bezeichnungen „Krüppel“ und „Freak“ zurückzuholen und sich kreativ und aktivistisch gegen gesellschaftliche Barrieren und Denkstrukturen aufzulehnen.

Blick in einen großen Ausstellungsraum mit eckigen Säulen und beschrifteten Zwischenwänden. Die Farbe weiß dominiert, an zweiter Stelle schwarz. Der weiße Boden hat schwarze Wegleitsysteme. An der Wand hängen gerahmte Bilder, in einer Ecke stehen zwei Statuen, die Venus von Milo und die Skulptur eines nackten Manns ohne Arme und mit angedeuteten Oberschenkeln, an einer Säule sind zwei Kopfhörer, daneben steht ein Sitzhocker, und im Hintergrund betrachtet eine Person Bilder an der Wand.

Bild 2: Blick in den Ausstellungsraum

Barrierefreiheit und Achtsamkeit in der Ausstellung

Dass die Ausstellung von kunst- und kulturerfahrenen und zugleich selbstbetroffenen Aktivist*innen organisiert wurde, ist deutlich zu erkennen, denn Barrierefreiheit und Achtsamkeit haben einen großen Stellenwert: Die Ausstellung lässt sich mit Rollstuhl oder Rollator erkunden, ist mit Wegeleitsystemen versehen, angeboten werden Leichte Sprache, Tastmodelle, Hörstationen, Audioguides und Gebärdenvideos als App, und ausgestellte Videos laufen mit englischen und deutschen Untertiteln. Die Textbeschreibungen sind respektvoll, nicht-defizitär gestaltet und bewusst in geringerer Höhe angebracht. Zwar konnten nicht alle Barrieren beseitigt werden, u.a. stehen Gebärdenvideos und Leichte Sprache nur in reduziertem Umfang zur Verfügung und Braille wird nicht angeboten, dennoch ist die Barrierefreiheit insgesamt als herausragend zu bezeichnen.

Die Macher*innen

Kuratiert wird die Ausstellung von Dr. Birgit Bosold und Kenny Fries unter der Mitarbeit von Kate Brehme und Sydney Ramirez. Kenny Fries ist queerer behinderter US-amerikanischer Schriftsteller und Vertreter der Disability Studies und Disability Culture, derzeit in Berlin lebend. Er hielt 2015 an der Evangelischen Hochschule RWL eine Lesung anlässlich der Gründung von BODYS, dem Bochumer Zentrum für Disability Studies (Bericht über die Lesung).

Weitere Eindrücke aus der Ausstellung

Foto von zwei eingerahmten buntfarbigen Ölgemälden, die nebeneinander an einer Wand hängen. Das linke Foto zeigt Theresia Degener mit dunklen Haaren, mit schwarzem sommerlichem Top und schwarzer Hose, halb im Schneidersitz in einem Baum mit dicken Ästen und grünen Blättern, im Hintergrund fließt ein Gewässer. Das rechte Foto zeigt Riva Lehrer in der Rückenansicht, sitzend in einer Art Gewässer, die kurzen Haare sind weiß mit roten Strähnen, der Oberkörper ist frei und zeigt ihre Körperbehinderung (Spina bifida und sehr lange Arme).

Bild 3: Ölgemälde der behinderten queeren amerikanischen Künstlerin Riva Lehrer, rechts ein Selbstportrait von ihr und links ein Portrait von Theresia Degener

Schwarz-Weiß-Foto von drei erwachsenen Menschen in Nahaufnahme, von denen zwei eine riesige Freiraumtreppe auf den Knien und auf dem Hintern hinauf zu einem erhabenen Gebäude klettern, dem Kapitol in Washington (USA). Das Foto wurde von unten aus der Froschperspektive geschossen.

Bild 4: Foto "Capitol Crawl" von Tom Olin: Behinderte Menschen klettern zur Demonstration von Barrieren und für ADA (Americans with Disabilities Act) eine riesige Freiraumtreppe zum Kapitol in Washington (USA) hinauf, ein historischer Moment der US-amerikanischen Behindertenbewegung am 12.03.1990.

Weitere Informationen zur Ausstellung

Link zu den Audio-Guides und DGS-Videos

Link zu Informationen in Leichter Sprache

 

Bericht und Fotos: Gudrun Kellermann, letzte Aktualisierung am 23.03.2023, 10:00 Uhr

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