Einen Schritt vor, einen Schritt zurück?

So titelt die European Expert Group eine Pressemitteilung vom 29. Mai 2020, in der sie ihren Bericht zum Übergang von institutioneller Pflege zu gemeindenahen Diensten in 27 EU-Mitgliedsstaaten vorstellt: Report on the Transition from Institutional Care to Community-Based Services in 27 EU Member States (Autor*innen: Jan Šiška und Julie Beadle-Brown).

In Zeiten der COVID-19-Pandemie und des Lockdowns zeigen sich einmal mehr die negativen Aspekte von Institutionalisierung (die Versammlung einer großen Anzahl von Menschen in einem Gebäude und der Entzug sozialer Kontakte usw.), die auch mit Gefahr für Leib und Leben verbunden sind. Die Art und Weise, wie diese Krise diejenigen betrifft, die tägliche Pflege und ihre Unterstützungssysteme benötigen, hat mit fehlenden oder fehl-geleiteten strukturellen Investitionen in Inklusion und in die Förderung verschiedener gemeindenaher Unterstützungsmodelle zu tun. Dies spiegelt sich auch in den Ergebnissen des jüngsten EEG-Berichts wider.

Der Bericht bietet ein umfassendes Bild über Situationen, Lösungen und Trends bei der Deinstitutionalisierung (DI) und Leben in der Gemeinde für Menschen mit Behinderungen und psychischen Gesundheitsproblemen, Obdachlose, Kinder (einschließlich Kindern mit Behinderungen und unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten) und ältere Erwachsene in 27 EU-Ländern [1]. Es zeigen sich folgende Trends:

  • Es leben immer noch ca. 1.440.000 Personen in Heimen.
  • Die Zahl der Personen in Einrichtungen scheint sich in den letzten 10 Jahren nicht wesentlich verändert zu haben.
  • Die Zahl der Kinder in Heimen ist leicht zurückgegangen. Sie ziehen zu ihren Familien, werden gefördert, adoptiert oder erreichen die Volljährigkeit und verlassen daher die Heime für Kinder.
  • In allen 27 EU-Ländern leben Menschen in Pflegeeinrichtungen, von denen nur die wenigsten klein oder gemeindebasiert sind (z.B. Wohngruppen verteilt in allgemeinen Wohnvierteln).
  • In einigen Ländern blieben Menschen wegen fehlender geeigneter Unterkünfte in der Gemeinde länger im Gefängnis und in Krankenhäusern als nötig, in anderen Ländern gibt es neben der Unterbringung im Heim kaum Alternativen für die Betreuung von Kindern außerhalb der Familie.
  • In vielen Ländern – und insbesondere in jenen, die vor einiger Zeit mit dem Prozess der Deinstitutionalisierung (DI) begonnen haben – sind es vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten und Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf, die immer noch in institutionellen Umgebungen leben.

Basierend auf diesen Erkenntnissen hebt der Bericht außerdem die wichtigsten Bedenken und möglichen Lösungen hervor, die sich aus seiner Analyse ergeben haben, wie z.B.:

  • Die Bedeutung einer personenzentrierten und individuellen Unterstützung, auch für Menschen mit komplexen Unterstützungsbedarfen, ist der einzige Weg, um eine vollständige Einbeziehung und Teilnahme an der Gemeinschaft sicherzustellen. Die Art und Weise, wie Pflege geleistet wird, die Qualität der Unterstützung und ihre Ergebnisse in Bezug auf die Lebensqualität sind Schlüsselindikatoren.
  • Obwohl es bei DI auch um die Umsetzung von Artikel 19 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen geht, sind nur sehr wenige Informationen über die Erfahrungen der Menschen in Bezug auf Auswahl und Kontrolle, Inklusion und Partizipation verfügbar. Ein zentrales Ziel sollte es sein, die Auswirkungen politischer Maßnahmen auf das Leben der Menschen zu verstehen. Klare Definitionen, gemeinsame Terminologie und unabhängige Forschung sind grundlegende Elemente, um dies zu erreichen.
  • In fast allen Ländern ist der Mangel an bezahlbarem kommunalem und sozialem Wohnraum eines der Haupthindernisse für die Verbesserung des Gemeinschaftslebens und die Bekämpfung der Obdachlosigkeit. Eine angemessene Wohnungspolitik, -strategien und -praktiken sind für erfolgreiche DI von entscheidender Bedeutung.
  • Viele der sogenannten „kleinen“ Pflegeeinrichtungen versorgen weiterhin eine große Anzahl von Personen. Das erschwert individuelle Pflege und Einbeziehung in die Gemeinschaft. Dadurch wird eine segregierende Kultur aufrechterhalten, anstatt gemeindenahe Alternativen zu fördern.
  • Verantwortung ist ein Thema. In vielen Ländern, in denen DI zu den vorrangigen EU-Themen gehört, besteht die Gefahr, dass der Übergang als „EU-finanziertes Projekt“ wahrgenommen wird. Das führt dazu, dass den Prozessen die Nachhaltigkeit fehlt oder DI-Projekte nur benutz werden, um Kriterien für weitere Förderung zu erfüllen. Darüber hinaus scheint es üblich zu sein, Verantwortung von der nationalen auf die lokale Ebene zu verschieben, womit nicht immer eine Ausstattung mit Finanzmitteln einhergeht. Dies führt zu nicht unerheblichen Problemen in Bezug auf Koordinierung, Kohärenz und Kompetenz der Dienstleistungen. Eine nationale Führungsverantwortung ist essentiell angesichts weitgreifender Veränderungsprozesse, die auf mehreren Ebenen und sektorübergreifend zu koordinieren sind. Nationale DI-Strategien müssen angemessene Finanzmittel sowie konkrete Umsetzungs- und Überwachungsmechanismen umfassen.

Vor diesem Hintergrund bedauert es die EEG sehr, dass die aktuellen länderspezifischen Empfehlungen (CSR) der EU die Notwendigkeit von Deinstitutionalisierung in keiner Weise berücksichtigen. Angesichts der aktuellen Pandemie und ihrer Folgen benötigt gerade die am stärksten gefährdete Bevölkerung ein angemessenes Rettungspaket, das auch die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen und gemeindenahen Diensten umfasst.

Die EEG
Die Europäische Expertengruppe für den Übergang von der institutionellen Pflege zu gemeindenahen Diensten ist eine breite Koalition von Interessengruppen, die Menschen mit Pflege- oder Unterstützungsbedürfnissen vertreten, darunter Kinder, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen, Familien und von Obdachlosigkeit Betroffene sowie Dienstleister, Behörden und zwischenstaatliche Organisationen.

Weitere Infos: https://deinstitutionalisation.com/

Den Bericht können Sie hier herunterladen.

[1] Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn, Zypern

 

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