Eindrucksvolles Lehrstück der jüngeren Bewegungsgeschichte
H.-Günter Heiden: „Behindertenrechte in die Verfassung! Der Kampf um die Grundgesetzergänzung 1990-1994“. Beltz Juventa (Weinheim Basel) 2024, 222 Seiten. Print: 38,- Euro, ePub und PDF 34,99 Euro. Erscheinungsdatum: 19. Juni 2024
Wer sich mit der Geschichte der deutschen Behindertenbewegung befasst, stand bislang vor dem Dilemma, dass die letzten Jahrzehnte nur unzureichend untersucht waren. Während über die Anfänge ab den 1970er-Jahren mittlerweile zahlreiche Publikationen vorliegen,[1] blieb die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung eher unterbelichtet. Dabei erzielte die Behindertenbewegung gerade mit der Grundgesetzergänzung 1994 einen ihrer größten politischen Erfolge. Noch deutlicher wird das Versäumnis in der Verfassungsgeschichtsschreibung. In gängigen Überblickswerken wird die Verfassungsänderung 1994, mit der ein Benachteiligungsverbot für behinderte Personen eingefügt wurde, nur am Rande erwähnt oder ganz verschwiegen.[2] Diese Lücke zu schließen, hat sich H.-Günter Heiden vorgenommen, dessen Buch rechtzeitig zum 30-jährigen Jubiläum der Grundgesetzergänzung erschienen ist. So fasste der Bundestag am 30. Juni 1994 den Beschluss, dem Artikel 3 einen zweiten Satz hinzuzufügen: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Vom Himmel fällt diese weitreichende Änderung des grundrechtlichen Normenbestandes nicht. Vielmehr war ihr der langjährige Einsatz behinderter Aktivist:innen vorangegangen, dessen Verlauf und politische Rahmenbedingungen Heiden eindrucksvoll nachzeichnet.
In seiner Darstellung kann H.-Günter Heiden auf umfangreichreiche Quellenbestände zurückgreifen, denn er zählt zu den wichtigsten Akteuren der Kampagne für die Verfassungsergänzung 1994 und verfügt über ein umfangreiches Privatarchiv. Damit ist auch Heidens Doppelrolle als Zeitzeuge und Chronist angesprochen. In seinen hierzu vorangestellten Überlegungen und im anschließenden Argumentationsgang zeigt sich, dass Heiden Analyse und Parteilichkeit, in diesem Fall für das Anliegen der Antidiskriminierung, in überzeugender Weise verbindet. An den Anfang seiner Untersuchung stellt er eine Einführung, die sich der Entstehung von Grundrechten in Verfassungen allgemein und speziell ihrer Genese im westdeutschen Grundgesetz 1949 widmet. Die Kategorie „Behinderung“, dies weist Heiden anhand der Protokolle im Parlamentarischen Rat nach, blieb in der Debatte über Gleichheitsrechte außen vor. Wenn in den Beratungen der zahlreichen Väter und vier Mütter des Grundgesetzes die Sprache auf behinderte Menschen kam, ging es vielmehr um Bedürftigkeit und soziale Fürsorge, zuweilen auch um den Opferstatus aufgrund der NS-„Euthanasie“-Verbrechen. In der Behindertenpolitik der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik standen die Kriegsopfer im Vordergrund, die vorherrschenden Paradigmen – auch für die sogenannten Zivilbehinderten – waren die der Rehabilitation und Fürsorge. Risse bekam dieses Bild erst in den 1980er-Jahren, als sich in Westdeutschland die Behindertenbewegung formierte. Krüppelgruppen und weitere behinderte Aktivist:innen prangerten nun das Wegsperren in Sonderwelten an und griffen die Impulse der US-amerikanischen Bewegung für selbstbestimmtes Leben und rechtliche Gleichstellung auf. In der Folge zählte die Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes zu den Kernforderungen der Bewegung, die später im Parlament von der Bundestagsfraktion der GRÜNEN aufgegriffen wurde.
Doch nicht dem Bundestag, sondern der ostdeutschen Demokratiebewegung in der Schlussphase der DDR kommt das Verdienst zu, einen deutschen Verfassungsentwurf vorgelegt zu haben, in dem das Diskriminierungsverbot erstmals auch auf das Merkmal „Behinderung“ bezogen wurde. Der Entwurf stammte von der „Arbeitsgruppe Verfassung“ des Zentralen Runden Tisches, wurde aber von der Volkskammer im April 1990 mit einer denkbar knappen Abstimmung abgewiesen. Der Frage, welche Organisationen und Personen maßgeblich daran beteiligt waren, dass die Arbeitsgruppe diese behindertenpolitische und grundrechtliche Innovation einführte, widmet Heiden eine gründliche Spurensuche in den überlieferten Unterlagen. Ausschlaggebend, so seine Einschätzung, war vermutlich ein Zusammenspiel mehrerer Akteure, insbesondere des Unabhängigen Frauenverbandes mit behindertenpolitischen Aktivisten der PDS, allen voran Jürgen Demloff und Ilja Seifert.
Ausstrahlung entfaltete der Entwurf auch auf die behindertenpolitische Diskussion in Westdeutschland, wenngleich die Skepsis angesichts der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung anfangs noch überwog. Einen Umschwung markierte die gestärkte Kampagnenfähigkeit der Behindertenbewegung, die Anfang der 1990er-Jahre auch Bündnisse mit etablierten Behindertenverbänden einging. Hier ragen der „Düsseldorfer Appell“ von Oktober 1991 heraus, der ein Antidiskriminierungsgesetz sowie eine Grundgesetzänderung forderte, und der erste Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai 1992 – beides Aktionsformen, die auf große Resonanz von Organisationen und Einzelpersonen stießen. Sobald das Anliegen einer Grundgesetzänderung aber die politische Ebene der Gemeinsamen Verfassungskommission erreichte, stieß es an die Grenzen ihrer Durchsetzbarkeit. Wie Heiden anhand von Stellungnahmen und Sitzungsprotokollen nachzeichnet, stand die regierende Koalition aus CDU/CSU und FDP in der späten Kohl-Ära für eine entschiedene Ablehnung gesellschaftlicher Reformen, gerade auch in der Behindertenpolitik. Nur unter den Bedingungen des Wahljahres 1994 und aufgrund der Einigkeit, die das gesamte Spektrum der Interessenvertretungen behinderter Menschen einschließlich der großen Sozialverbände demonstrierte, lenkte Helmut Kohl schließlich ein und bahnte den Weg für die Zustimmung der Unionsfraktion im Bundestag. Damit konnte die Grundgesetzänderung, einschließlich des speziellen Diskriminierungsverbots für behinderte Menschen, im November 1994 in Kraft treten.
Mit seinem Buch über die Grundgesetz-Kampagne, so ist zu resümieren, erschließt H.-Günter Heiden ein bedeutendes Kapitel der deutschen Behinderten- und Antidiskriminierungspolitik. Mit der Änderung der Verfassung, dem Gravitationszentrum der Rechtsordnung, erzielte die Behindertenbewegung einen Perspektivwechsel, der eine Ausrichtung an Grund- und Menschenrechte markierte und insofern auch auf die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 verwies. Zugleich stellt Heiden in seinem Schlusskapitel heraus, wie zahlreich und mitunter schwer zu berechnend die Faktoren waren, die schließlich zum Erfolg der politischen Kampagne beitrugen. Manches davon war dem Zufall der Zeitläufe geschuldet, entscheidend aber waren Zielstrebigkeit, strategisches Geschick und die kommunikative Energie, die die Aktivist:innen seinerzeit an den Tag legten. Insofern ist Heiden ein eindrucksvolles Lehrstück der jüngeren Bewegungsgeschichte gelungen, dem zahlreiche Leser:innen zu wünschen sind.
Marc von Miquel, 18.4.2025
[1] Zum Beispiel: Bösl, Elsbeth (2010): Die Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik aus Sicht der Disability History. In: APuZ 23/2010 www.bpb.de/apuz/32707/die-geschichte-derbehindertenpolitik-in-der-bundesrepublik-aus-sicht-der-disability-history; Degener, Theresia/Miquel, Marc von (Hg.), Aufbrüche und Barrieren. Behindertenpolitik und Behindertenrecht in Deutschland und Europa seit den 1970er Jahren. transcript (Bielefeld) 2019. Mürner, Christian/Sierck, Udo, Krüppelzeitung. Brisanz der Behindertenbewegung. AG SPAK (Neu Ulm) 2009; Köbsell, Swantje, Gegen Aussonderung – für Selbstvertretung. Zur Geschichte der (west-)deutschen Behindertenbewegung, in: Lars Bruhn u.a. (Hg.), Disability Studies und Soziale Arbeit, Beltz Juventa (Weinheim Basel) 2023, S. 25–53; Jan Stoll, Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderung in Westdeutschland seit 1945, Campus (Frankfurt a.M./ New York) 2017.
[2] Detjen, Stephan (Hg.), In bester Verfassung?! 50 Jahre Grundgesetz. Begleitband zur Wanderausstellung der Bundeszentrale für politische Bildung und der Bundesrechtsanwaltskammer. Verlag Dr. Otto Schmidt (Köln) 1999; Detjen, Stephan, Abschied vom Grundgesetz? Essay. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 2009. www.bpb.de/apuz/32017/abschied-vom-grundgesetz-essay; Steinbeis, Maximilian/Detjen, Marion/Detjen, Stephan, Die Deutschen und das Grundgesetz. Geschichte und Grenzen unserer Verfassung, Pantheon Verlag (München) 2009.