BODYS-Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde Triage
Das Bochumer Zentrum für Disability Studies hat eine weitere Stellungnahme zur Diskussion um Triage in Zeiten der COVID-19-Pandemie veröffentlicht und reagierte damit auf eine Anfrage des Bundesverfassungsgerichts, sich als Sachverständige im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde einzubringen. In dem Verfahren geht es um die Frage, ob die Verteilung knapper intensiv-medizinischer Behandlungsressourcen in Zeiten der Pandemie gesetzlich geregelt werden müsste oder – wie es bislang der Fall ist – Richtlinien von medizinischen Fachgesellschaften ausreichend sind.
Verfassungsbeschwerde: Deutschland braucht ein Triage-Gesetz
Wie zuletzt in den Medien mehrfach berichtet, hatten 9 behinderte Menschen beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde und einstweilige Anordnung wegen gesetzgeberischen Unterlassens eingereicht. D.h., sie forderten den Gesetzgeber auf, schnellstmöglich ein Triage-Gesetz zu schaffen und zwar in einem inklusiven, partizipativen demokratischen Verfahren. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Antrag auf einstweilige Anordnung abgelehnt, aber zugleich festgestellt, dass die Beschwerde selbst nicht von vornherein unbegründet sei. Es hat daraufhin mehrere Sachverständige um Stellungnahme zu insgesamt 9 Fragen gebeten, darunter BODYS, den Deutschen Ethikrat, die Bundesärztekammer, das Deutsche Institut für Menschenrechte und der NETZWERK ARTIKEL 3 e.V.
„Inklusion in Zeiten von Katastrophen-Medizin“
Bereits im Frühjahr dieses Jahres hatte sich BODYS zur Triage-Diskussion geäußert und den Stellenwert der UN BRK als wichtigen, bisher nicht ausreichend berücksichtigten, Menschenrechtsstandard hervorgehoben. In dieser ersten Stellungnahme zum Thema kritisierte BODYS die im April veröffentlichten fachmedizinischen Richtlinien als diskriminierend und nicht ausreichend. Dieses Argument führt die zweite Stellungnahme nun weiter aus.
Fachmedizinische Richtlinien sind mittelbar diskriminierend
Aus strafrechtlicher, aber auch verfassungs- und völkerrechtlicher Sicht ergibt sich deutlich eine Schutz- und Antidiskriminierungspflicht des Staates, weshalb es nicht genügt, Fragen der Triage medizinischen Fachgesellschaften zu überlassen. Richtlinien wie die der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sind nur scheinbar neutral in der Frage, welche von zwei Personen im Zweifelsfall den einen freien Intensivversorgungsplatz erhält. Zur Anwendung kommen sollen laut DIVI die Kriterien der Dringlichkeit und der Erfolgsaussicht der Behandlung. Gerade in Bezug auf das Kriterium der Erfolgsaussicht laufen insbesondere behinderte und chronisch kranke Menschen Gefahr, benachteiligt zu werden. Damit ist die Richtlinie in diesem Punkt keineswegs neutral, sondern mittelbar diskriminierend. Als Ursache identifiziert BODYS u.a. den medizinischen Blick auf behinderte Menschen, der Behinderung mit Leid und minderer Lebensqualität gleichsetzt. Dies steht jedoch im Widerspruch zur UN Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 auch in Deutschland geltendes Recht ist.
BODYS empfiehlt demokratisch-inklusiven Prozess auf dem Weg zum Triage-Gesetz
Auch in anderen Ländern finden sich kaum gute Beispiele für menschenrechtsbasierte gesetzliche Regelungen zur Triage. Utilitaristische, d.h. an der Erfolgsaussicht orientierte Ansätze dominieren die Praxis. Aber es zeigt sich auch, dass sich in einigen Ländern – wie Australien, Kanada, San Marino und USA – Behinderten- und Bürgerrechtsorganisationen erfolgreich auf Antidiskriminierungsrecht und die UN BRK beziehen und Rechtsschutz finden.
Vor diesem Hintergrund spricht sich BODYS für eine gesetzliche Regelung der Triage-Situation aus, um so letztlich auch den von der UN BRK geforderten Paradigmenwechsel vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung in der medizinischen Versorgung zu fördern. Im Sinne der UN BRK sollte das Gesetzgebungsverfahren Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen einbeziehen und der Diskurs demokratisch-inklusiv geführt werden.
Ausblick
Das Bundesverfassungsgericht wird nun die Stellungnahmen der unterschiedlichen Sachverständigen prüfen. Mit einer Entscheidung sollte Anfang 2021 zu rechnen sein. Wie jedoch das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob es ein Triage-Gesetz geben muss, entscheidet – das bleibt abzuwarten.
BODYS Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde Triage (Word)
BODYS Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde Triage (PDF, nicht barrierefrei)