BODYS-Stellungnahme: Grenzüberschreitender Schutz schutzbedürftiger Erwachsener
Stellungnahme zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Maßnahmen und die Zusammenarbeit in Fragen betreffend den Schutz Erwachsener COM (2023) 280.
[Hinweis: Anmerkungen sind nummeriert und in eckigen Klammern im Text angezeigt. Die Ausführungen finden Sie am Ende der Stellungnahme.]
Das Bochumer Zentrum für Disability Studies hat den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Maßnahmen und die Zusammenarbeit in Fragen betreffend den Schutz Erwachsener COM (2023) 280 zur Kenntnis genommen. Wir sind besorgt, dass mit der Inkraftsetzung dieses Verordnungsentwurfs die UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) verletzt würde.
Mit dem Verordnungsvorschlag soll die Konvention über den Internationalen Schutz von Erwachsenen von 2000 der Haager Konferenz über Internationales Privatrecht (HCCH - Konvention) umgesetzt werden. Diese HCCH-Konvention muss im Hinblick auf die sechs Jahre später verabschiedete UN BRK 2006 als veraltet angesehen werden, da sie menschenrechtlich fragwürdige Rechtskonstruktionen, wie etwa Vormundschaft und andere Formen der fremdbestimmten Stellvertretung als gewöhnliche Rechtspraxis ansieht. Ebenso werden Zwangsunterbringung und Institutionalisierung von behinderten Erwachsenen als allgemein anerkannte Rechtspraxis im internationalen Privatrecht kodifiziert. Diese eher prozeduralen Regeln unterminieren den mit der UN BRK gesetzten Menschenrechtsstandard. Artikel 12 UN BRK gewährt allen behinderten Menschen gleiche Rechtssubjektivität und verpflichtet Mitgliedsstaaten, alle Formen der fremdbestimmten Stellvertretung durch Formen der unterstützten Entscheidungsfindung zu ersetzen. Das hat der CRPD [1]-Ausschuss in seiner 2014 verabschiedeten Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 und in zahlreichen Abschließenden Bemerkungen zu Staatenberichtsverfahren klar zum Ausdruck gebracht.[2]
Weitere Menschenrechte aus der UN BRK, die mit der HCCH-Konvention in Frage gestellt werden, sind das Recht auf Freiheit von (Zwangs-)Institutionalisierung (Art.14), das Recht auf Selbstbestimmtes Leben (Art.19) und das Recht auf Schutz vor Diskriminierung (Art.5). Hierauf haben der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Gerard Quinn) und die Unabhängige Expertin für die Wahrnehmung aller Menschenrechte durch ältere Menschen (Claudia Mahler) im Jahre 2021 hingewiesen und eine klarstellende Harmonisierung dieser internationalen Rechtsquellen empfohlen, die den Vorrang der UN BRK bekräftigt.[3] In einer zweiten gemeinsamen Stellungnahme aus dem Jahre 2023[4] haben sie ihre Bedenken verstärkt und eine klarstellende Überarbeitung des Verordnungsvorschlags angemahnt. Insbesondere sollten fremdbestimmte Stellvertretung und Institutionalisierung von Erwachsenen im Haupttext des Verordnungsvorschlags als unvereinbar mit der UN BRK deklariert werden.
BODYS schließt sich dieser rechtlichen Einschätzung an und empfiehlt der Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, den Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission entsprechend abzuändern bzw. ganz abzulehnen, sollte eine UN BRK-konforme Änderung des Verordnungsentwurfs nicht vereinbart werden.
Sowohl die EU als auch Deutschland sind Mitglieder der UN BRK und wurden beide im Jahr 2015 vom UN BRK-Fachausschuss überprüft, Deutschland ein zweites Mal im August 2023. In allen Berichtsverfahren wurde empfohlen, die Deinstitutionalisierung behinderter Menschen in der EU bzw. in Deutschland zugunsten selbstbestimmter, inklusiver Lebensformen effektiver voranzutreiben. In allen drei Prüfungsverfahren wurde die Abschaffung von Vormundschaft und anderen Systemen der ersetzenden Entscheidungsfindung angemahnt. In allen drei Prüfverfahren wurde die Abschaffung von Institutionalisierung und Zwangsbehandlung angemahnt.[5]
Institutionalisierung behinderter Menschen in Heimen und anderen Sondereinrichtungen und Fremdbestimmung durch rechtliche Betreuung sind zwei schädliche Praktiken der europäischen und deutschen Wohlfahrtstradition. Angesichts ihrer Zählebigkeit, die in einer über 100-jährigen Rechtspolitik und -praxis wuchs, ist der Bruch mit dieser Tradition von größter Bedeutung. Die Reformen, die in Deutschland mit dem BTHG und der Betreuungsrechtsreform angestoßen wurden, gehen in die richtige Richtung. Der Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission gefährdet diesen Reformprozess.
Bochum, 28. Juni 2024
Prof. Dr. Theresia Degener & Prof. Dr. Kathrin Römisch
(Leitung BODYS)
Anmerkungen
[1] Convention on the Rights of Persons with Disabilities
[2] UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities, General Comment No 1 (2014) Equal recognition before the law, CRPD/C/GC/1, 19 May 2014; Degener, Theresia; Uldry, Marine (2018): Auf dem Weg zu inklusiver Gleichheit: 10 Jahre UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Hg. v. Theresia Degener. Bochum
[3] Joint statement by the Special Rapporteur on the rights of persons with disabilities, Gerard Quinn, and the Independent Expert on the enjoyment of all human rights by older persons, Claudia Mahler (8 July 2021) Toward Greater Coherence of International Law. Reflections on the Hague Convention (2000) on the International Protection of Adults.
[4] Joint Submission (2 August 2023) From: The UN Special Rapporteur on the rights of persons with disabilities (Gerard Quinn) and the Independent Expert on the enjoyment of all human rights by older persons (Claudia Mahler). Re: The European Commission’s proposal for a Regulation and Council Decision governing the Hague Convention on the Protection of Adults.
[5] UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities, Concluding observations on the initial report of the European Union, 2 October 2015, CRPD/C/EU/CO/1; UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities, Concluding observations on the initial report of Germany, 13 May 2015, CRPD/C/DEU/CO/1; UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities, Concluding observations on the combined second and third periodic reports of Germany, 3 October 2023, CRPD/C/DEU/CO/2-3.